Die Digitalisierung von Schulbüchern ist ein wichtiger Schritt in Richtung eines digitalisierten und hochwertigen Unterrichts. Ein Blick nach Estland zeigt, wie Wettbewerb und das Setzen richtiger Anreize den didaktischen Mehrwert von digitalen Schulbüchern sichern können.
Ich sitze in einem Büro am Rand der Altstadt Tallinns, der Hauptstadt Estlands. Mir gegenüber sitzt Antti Rammo, CEO des jungen Start-ups Star Cloud, das die Digitalisierung des Großteils der estnischen Schulbücher vorantreibt. Es ist meine zweite Woche im digitalen Vorreiterland. Die erste Woche war mit Schulbesuchen gefüllt, doch jetzt sind Ferien. Ich nutzte die Chance und schrieb im Bildungsbereich tätige Organisationen an, in der Hoffnung, dass sie mir das Schulsystem näherbringen.
Mein Besuch in Estland ist nicht ohne Hintergedanken, denn in der jüngsten PISA-Studie belegte das estnische Schulsystem einen Spitzenplatz. Mit einem Lehramtsabschluss in der Tasche hatte ich Lust, vom Erfolg dieser PISA-Spitzen nicht nur zu lesen, sondern ihm vor Ort auf den Grund zu gehen. In den kommenden Monaten wird mich meine Reise weiter nach Finnland, Singapur und Japan führen. In jedem Land verbringe ich ca. fünf Wochen, besuche Schulen und spreche mit Lehrkräften, Lernenden, Eltern, Bildungsforschenden und anderen Akteuren. Fünf Monate, vier Länder, eine Bildungsreise.
Aber zurück zu Antti und seinen Schulbüchern. Zu Beginn unseres Gesprächs klärt er die erste Fehlannahme zur digitalen Mediennutzung in Estlands Schulen auf. Obwohl das Digitale sehr wohl zur estnischen Identität dazugehöre, sei die tatsächliche Nutzung im Unterrichtsalltag nicht besonders hoch. Meine Schulbesuche bestätigten das, zumindest teilweise: Zur Klassenzimmerausstattung gehörten stets ein PC am Lehrerpult, ein Beamer oder Smartboard und WLAN, doch ein weit verbreiteter Einsatz von digitalen Medien wie Laptops oder Tablets blieb aus.
Laut Antti ist die Digitalisierung von Schulbüchern eine Schlüsselkomponente für digitalen Unterricht und es hätte mehrere Versuche der Politik gegeben, diesen Prozess voranzutreiben. So wurden beispielsweise Schulbuchverlage verpflichtet, eine digitale Version für jedes Schulbuch anzubieten. Ohne Erfolg. Das Gesetz endete darin, dass PDF-Dateien mit geringem pädagogischen Mehrwert den Markt fluteten, doch die Schulen hatten weder Geld dafür noch Interesse daran. Ein perfektes Beispiel dafür, wie eine Vorschrift ohne die richtigen Anreize aller Wahrscheinlichkeit nach wirkungslos bleibt, da sie nur halbherzig umgesetzt wird. Erst nach mehreren Jahren steuerte die Politik dem entgegen und begann eine Digitalisierungsstrategie zu verfolgen, die ich als Spotify-Strategie bezeichnen werde.
Wahlfreiheit und Wettbewerb
Der Spotify-Strategie liegen zwei Prinzipien zugrunde: Wahlfreiheit und Wettbewerb. In den meisten Ländern entwickelt jeder Schulbuchverlag eine hauseigene Plattform für seine Schulbücher und Schulen entscheiden sich für einen Verlag bzw. dessen digitales Angebot. Wenn ein Kapitel im Schulbuch von schlechter Qualität ist, bleiben einer Lehrkraft kaum digitale Alternativen. Nicht so in Estland. Die vom Start-up betriebene Lernplattform namens OPIQ – õpik ist estnisch für Schulbuch – wird von allen großen Verlagen genutzt, um ihre Inhalte zu digitalisieren. Die technische Expertise zur Entwicklung von digitalen Aufgabenformaten wurde ausgelagert, die Verlage konzentrieren sich auf das Fachliche und Didaktische.
Der Clou dabei ist, dass sich das Bildungsministerium 2018 mit den Schulbuchverlagen auf einen Deal einigte: Von der ersten bis zur neunten Klasse (an der sogenannten basic school) erhalten alle Schüler*innen sowie Lehrkräfte kostenlosen Zugang zu allen digitalen Schulbüchern – in jedem Fach und in jeder Jahrgangsstufe. Das Ministerium trägt die Kosten und die Lehrkräfte haben die Wahlfreiheit, passende Inhalte und Aufgaben aus verschiedenen Schulbüchern auszuwählen und ihren Klassen wie eine Playlist mit Aktivitäten zusammenzustellen.
Clou Nummer zwei: Die Schulbuchverlage bekommen keine fixe Entlohnung. Ähnlich wie bei Musiker*innen auf Spotify hängt die Bezahlung von der tatsächlichen Nutzung ab, also davon, wie viele Schüler*innen ein Buchkapitel bearbeiten. Die Verlage erhalten eine Rückmeldung, welche Kapitel an Schulen gut oder schlecht ankommen und verbessern dementsprechend ihr Angebot – das Schulbuch „lernt“ also dazu. Es entsteht ein kontinuierlicher Wettbewerb, aber nicht darum, wer die neueste Technik bietet, sondern wer die besten Inhalte hat.
Entscheidend ist der didaktische Mehrwert
Ich bin bereits ziemlich beeindruckt von der Eleganz des Systems und frage Antti, ob Lehrkräfte dieses Angebot auch wahrnehmen. Er öffnet eine Präsentation mit einer Grafik der Nutzungsdaten: Misst man den Anteil aller Lehrkräfte und Schüler*innen, die eine solche Plattform mindestens einmal im Monat nutzen, so würden andere Länder zwischen 3 Prozent und 10 Prozent erreichen. Vor 2018 lag diese Zahl bei OPIQ ebenfalls bei 3 Prozent. Doch mit Beginn des kostenlosen Zugangs lässt sich ein markanter Anstieg erkennen: im ersten Jahr auf 20 Prozent und im zweiten Jahr auf 30 Prozent. Mittlerweile nutzt mehr als die Hälfte aller estnischen Lernenden der siebten bis neunten Klasse die Plattform regelmäßig.
Für die starke Nutzung hat Antti mehrere Erklärungen: Die Lernplattform ist etwa als Web-App auf jedem Endgerät verfügbar. Man müsse auch keine neuen Accounts erstellen. Die digitalen Klassenbuch-Plattformen eKool und Stuudium, in denen Daten der Lernenden, Abwesenheiten und Hausaufgaben gespeichert werden und die schon seit Jahren in Estland etabliert sind, können mit der Schulbuchplattform Daten austauschen. Lehrkräfte können sogar Links zu einzelnen Aufgaben oder Textabschnitten mit einem Klick als Hausaufgabe aufgeben.
Doch entscheidend sei der didaktische Mehrwert. Wenn den Nutzer*innen in einem Fach die Schulbücher mehrerer Jahrgangsstufen offenstehen, können leistungsstarke Lernende problemlos Aufgaben der nächsten Jahrgangsstufe bearbeiten und leistungsschwache können Wissenslücken aus vorherigen Jahren beheben. Es gibt sogar eine Suchfunktion, die alle Verlage, Fächer und Jahrgangsstufen durchsucht, und eine Vorschlagsfunktion, die zu einem gegebenen Thema verwandte Inhalte in anderen Schulbüchern anzeigt. So fällt es Lehrkräften leichter, Bezüge zu anderen Fächern herzustellen. Schließlich können Lehrkräfte ihren Schüler*innen individuelles Feedback geben – falls die Aufgabe nicht schon automatisch ausgewertet wird –, denn vom Lehrkräftekonto kann jede Bearbeitung durch die Schüler*innen gesehen und die Leistung der Klasse verfolgt werden.
Eine Vision für die Zukunft
Was steht für die nächsten Jahre an? Noch ist adaptives Lernen, bei dem den Nutzer*innen auf Basis ihrer bisherigen Leistungen die nächste Aufgabe vorgeschlagen wird, nicht flächendeckend umgesetzt. Das sei jedoch nur eine Frage der Zeit. Erste Prototypen soll es am Ende des Schuljahres geben. Die für den Algorithmus notwendige Daten werden bereits gesammelt.
Doch es wird schon weitergedacht: »Unsere große Vision ist es, dass der ganze estnische Lehrplan kein Textdokument bleibt, sondern ein lebendiger, digitaler Organismus wird.« Jedem Text, jeder Aufgabe würden einer Kompetenz im Lehrplan zugeordnet werden. Die erfolgreiche Bearbeitung durch die Nutzer*innen lässt eine digitale Spur auf dessen Lernprofil zurück, welches den Fortschritt für jedes Lernziel anzeigt. Der Lehrplan würde aus tausenden solcher Lernziele bestehen. Während die jetzige Version der Plattform der Lehrkraft lediglich erlaubt, die Bearbeitung einzelner Aufgaben zu sehen, würde ein solches System eine Benotung überflüssig machen. Ein Blick ins Lernprofil würde reichen, um die Leistung der Lernenden zu beurteilen. Klar ist: Antti und sein Team legen erst los.
Dieser Beitrag erschien im Blog des Forums Bildung Digitalisierung.