Im Interview für das Lehrermagazin schoolbook spreche ich darüber, ob sich unterschiedliche Schulsysteme überhaupt vergleichen lassen.
Herr Brand, wie sind sie auf die Idee Ihrer Reise in die PISA-Spitzenländer gekommen?
Schon als Schüler konnte ich ein Jahr an einer Highschool in den USA verbringen. Seitdem interessiere ich mich sehr für Schulsysteme in anderen Ländern – und was wir von ihnen lernen können. Deshalb wollte ich von den Ländern, die im Rahmen der PISA-Studie oft heiß diskutiert werden, nicht nur lesen, sondern den Schulsystemen vor Ort auf den Grund gehen.
Lassen sich Bildungssysteme wie in Japan, Estland oder Finnland überhaupt so einfach mit dem Deutschen vergleichen?
Wir dürfen nicht ins Rosinenpicken verfallen – auf die Reformen hinweisen, die uns gefallen, und Länder ignorieren, die einen anderen Weg gehen. Und in den seltensten Fällen lässt sich ein PISA-Erfolg durch eine einzige bildungspolitische Maßnahme erklären. Da PISA die Kompetenzen von 15-Jährigen misst, kommt hinzu, dass sich z. B. ein neuer Grundschul-Lehrplan erst viele Jahre später auf die PISA-Leistung auswirkt.
Aber der Blick über den deutschen Tellerrand lohnt sich in jedem Fall! Es wäre ein Fehler, Ideen aus dem Ausland unter dem Vorwand, dass Deutschland nicht Estland oder Finnland sei, pauschal abzulehnen.
In Ihrem Blog haben Sie den Satz geschrieben: „Alles funktioniert irgendwo, aber nichts funktioniert überall.“ Was kann man Ihrer Meinung nach von anderen Ländern lernen?
Es gibt keine Wunderwaffe, mit der wir all unsere Bildungsprobleme lösen werden. Viele Aspekte von Schule sind auch mit der Kultur des Landes verknüpft. Doch während ich unterwegs war – spätestens im dritten Land – fing ich an, über Kulturgrenzen hinweg Parallelen im Schulalltag zu beobachten. Ein Beispiel ist die unkomplizierte individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Lernrückständen. Die findet vielleicht nicht so oft im Unterricht direkt statt, aber in allen Schulsystemen gibt es Strukturen, die die Leistungsunterschiede in der Klasse schnell auffangen, bevor sie zum Problem werden.
Bei allem, was man über Estland als digitalisiertes Land hört, hatte ich einen stärkeren Einsatz von digitalen Medien erwartet.
Die konkrete Umsetzung kann dabei in jedem Land anders aussehen. In Finnland gibt es flexible Fördergruppen, in die Schüler mit wenig Bürokratie wechseln können, bis sie ihre Lernlücke geschlossen haben. In Estland ist es üblich, dass Lehrkräfte einmal die Woche 1-zu-1-Unterstützung in Schülersprechstunden anbieten. In Japan findet das informell vor oder nach dem Unterricht statt. Solche Muster verdienen unsere Aufmerksamkeit. Uns steht es frei, unsere eigene „deutsche“ Umsetzung dieser Idee zu finden, aber das Prinzip an sich könnten wir uns abschauen.
Und wie sieht es in den Schulen aus? Sind Klassenzimmer auf der ganzen Welt gleich oder unterscheiden sich die Lernräume in den einzelnen Kulturen?
Unterschiede gibt es natürlich überall, aber im Gesamten waren die Klassenzimmer erstaunlich ähnlich – und nicht sonderlich unterschiedlich zu Deutschland. Ich hatte aber den Eindruck, dass die Schulen mehr Wert darauf legen, das Schulgebäude über die Klassenzimmer hinaus als Lebensraum der Schülerinnen und Schüler zu gestalten.
Vorhin erwähnte ich die individuelle Förderung außerhalb des Unterrichts. In Estland waren z. B. Sofas in den Gängen, auf denen Lehrkräfte ihren Schülern etwas erklärten. In Singapur hingegen sah ich in mehreren Schulen Picknicktische, an denen sich Lehrkräfte mit kleinen Schülergruppen trafen, um Fragen zu klären.
An deutschen Schulen haben während der Schulschließungen aufgrund von Corona zum Teil Konzepte für digitalen Unterricht gefehlt. Wie weit waren da die Länder, die Sie besucht haben?
Vor allem in Estland und Singapur gibt es an Schulen stark etablierte Lernplattformen, die sicherlich den Schwenk zum volldigitalisierten Lernen vereinfacht haben. Und doch: Bei allem, was man über Estland als hoch digitalisiertes Land hört, hatte ich im Unterricht einen stärkeren Einsatz von digitalen Medien erwartet. Der Unterschied zu Deutschland – soweit ich es wahrnehmen konnte – war, dass in Estland wirklich in jedem Klassenzimmer ein PC am Lehrerpult und ein Beamer bzw. Smartboard zur Verfügung stand und auch die ältesten Kollegen damit umgehen konnten. Kleine Schritte, dafür aber flächendeckend. Die Schulen, die ich in Japan besucht habe, waren hingegen in Sachen Digitalisierung arg hinterher. Da fühlte ich mich oft wie im falschen Jahrhundert.
Welches Schulsystem hat Ihnen am besten gefallen?
Als Lehrer fand ich in Singapur unglaublich spannend, mit welcher Besessenheit dieses Land in die Weiterbildung ihrer Lehrkräfte investiert. Das Schulsystem erlaubt es niemandem, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen.
Vielen Dank für das Interview.
Die Titelgeschichte des Magazins zu PISA-Siegerländern kann hier nachgelesen werden.