Die neuen PISA-Ergebnisse sind dramatisch. Es sind für Deutschland die schlechtesten Messungen seit dem PISA-Schock. Wie kommen wir aus der Krise? Für die Berichterstattung des SPIEGEL Magazins und der Süddeutschen Zeitung durfte ich mit Interviews und Zitaten beisteuern.
Interview für den SPIEGEL-Newsletter "Kleine Pause"
SPIEGEL: Herr Brand, wie kam es zu Ihrer „Pisa-Reise“?
Alexander Brand: Ich finde wahnsinnig spannend, andere Schulkulturen kennenzulernen, den eigenen Horizont zu erweitern und woanders zu sehen, was in Schulen alles möglich ist. Deshalb habe ich mir kurz nach meinem Lehramtsstudium 2019 einige Länder ausgesucht, die bei Pisa oft besonders gut abgeschnitten haben, bin dort hingereist und habe insgesamt gut zwei Dutzend Schulen besucht; und zwar bewusst durchschnittliche Schulen, keine Vorzeigeschulen.
SPIEGEL: Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis?
Brand: In den Ländern, die ich bereist habe, werden keine Schul-Utopien umgesetzt. Die Systeme haben Stärken und Schwächen. Aber in einigen Punkten könnte Deutschland lernen.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
Brand: In Estland beispielsweise herrscht auch Lehrkräftemangel. Trotzdem hält das System viele Netze bereit, um auch leistungsschwache Schüler aufzufangen. Wer etwa länger krank war oder aus anderen Gründen nicht gut mitkommt, kann zur Sprechstunde seines Lehrers gehen und bekommt eine 1:1-Förderung. Auch in Finnland gibt es öfter Förderung in Kleingruppen. In Deutschland müssen Lerndefizite viel öfter zu Hause aufgefangen werden.
SPIEGEL: Japan und andere asiatische Länder gehören bei Pisa immer wieder zu den Spitzenreitern. Der Preis dafür scheinen Berichten zufolge viel Drill und Leistungsdruck zu sein. Haben Sie das so erlebt?
Brand: Wenn Lebenschancen verteilt werden, entsteht immer Leistungsdruck. Und ja, ich habe in Japan und Singapur erlebt, dass ältere Schülerinnen und Schüler Schulstress haben und sehr viel lernen. Das gilt vor allem beim Übergang in weiterführende Schulen. In Singapur ist für die 6. Klasse die Rede von einem „Grundschul-Abitur“. In Japan fängt starker Stress etwa in der 8., 9. Klasse an.
SPIEGEL: Und vorher?
Brand: Nach meiner Beobachtung erleben Kinder in Japan eine entspannte Grundschulzeit – anders als in Deutschland, wo der Wechsel nach der vierten Klasse oft mit viel Druck verbunden ist.
SPIEGEL: Was ist Ihnen im Unterricht aufgefallen?
Brand: Ich war etwa in Singapur begeistert von der Unterrichtsqualität. Dort wird didaktisch in der Regel auf einem viel höheren Level unterrichtet als bei uns. Lehrkräfte bilden professionelle Teams, um Unterricht weiterzuentwickeln, Klassenarbeiten zu erstellen etc. Von Einzelkämpfertum kann keine Rede sein. Den Lehrkräften wird dafür und auch für Fortbildungen viel Zeit eingeräumt.
SPIEGEL: Wo verbringen Schüler täglich mehr Zeit in der Schule als in Deutschland?
Brand: Überall. Der Schultag dauert länger als in Deutschland. Mich hat aber überrascht, dass die Extrazeit nicht mit mehr Unterricht gefüllt wird. Sondern etwa in Japan und Singapur sind Schüler und Lehrer oft in sogenannten Klubs sportlich oder kreativ aktiv. Die Schule ist Lebens- und nicht nur Lernort. Das fördert die Beziehung zwischen Schülern und Lehrern, aber auch die sozialen Kompetenzen von Schülern.
SPIEGEL: Ihr Fazit?
Brand: In Deutschland soll eine Unterrichtsstunde alles abdecken: das Fachliche, die individuelle, perfekt differenzierte Förderung, das soziale Lernen, die Förderung der Lehrer-Schüler-Beziehung. Der Unterricht ist damit bei uns völlig überfrachtet. Dafür braucht es andere Angebote. Wenn wir das in Deutschland verstanden haben, sind wir einen Schritt weiter.
Das Interview ist am 6.12.2023 auf Spiegel Online erschienen.
"30 Prozent können nicht richtig rechnen. Also jeder Zweite." - Die SPIEGEL-Titelstory
Für die SPIEGEL-Titelstory am 9.12.2023 zum Mathematikunterricht im Zuge der PISA-Krise durfte ich ein paar Zitate beisteuern.
„Die Grundschule in Japan misst den Basiskompetenzen viel Bedeutung zu“, erzählt Brand. Jeden Tag habe es in der Schule, die er besuchte, einen Slot von zehn Minuten gegeben, den die Kinder zum Üben nutzen: 100 Aufgaben auf dem Blatt, die Schüler riefen „fertig“, wenn sie fertig waren, die Lehrerin stoppte die Zeit, danach wurde im Schnelldurchgang korrigiert. „Das wirkt von außen vielleicht erst mal etwas dröge“, erzählt der deutsche Lehrer. „Natürlich ist das auch Drill, aber ich hatte den Eindruck, dass den Kindern das Ganze viel Spaß gemacht hat.“
Brand kontert gängige Sichtweisen auf die asiatischen Mathe-Wunderländer. „Ich halte nichts von der Kritik, dass solche Routinen Problemlöse-Strategien im Weg stehen.“ Das Gegenteil sei der Fall: „Routinen sind die Grundlage dafür, dass man kreativere Aufgaben bewältigen kann“, führt Brand aus. „Das ist wie im Sport oder wenn man ein Instrument lernt: Man muss üben, um anschließend kreativ spielen zu können.“
Die Kreativität gebe es im japanischen Mathe-Unterricht durchaus: „Aufgaben, die man nicht nach Schema F lösen kann, Aufgaben, bei denen es mehrere Lösungen gibt, Knobelaufgaben“, sagt Brand. Er habe oft beobachtet, wie in Japan Schülerinnen und Schüler in Kleingruppen an Aufgaben getüftelt und ihre Lösungen präsentiert und diskutiert hätten. „Diese Art von Unterricht ist aktivierend und das baut auf den frühzeitig gelegten fachlichen Grundlagen auf.“
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Von Auffangnetzen und Teamgeist - Süddeutsche Zeitung
Auch der Süddeutschen Zeitung konnte ich von meiner Reise berichten.
Was ist mit mehr Digitalisierung, wie in Finnland? Mit mehr Disziplin beim Üben, wie in Japan? Auf der Suche nach einem Erfolgsrezept blicken Politik und Medien seit zwei Jahrzehnten interessiert in Länder, die in Bildungsstudien gut abschneiden. „Einzelne Maßnahmen herauszupicken und nachzumachen, bringt aber in den seltensten Fällen etwas“, sagt Alexander Brand. Er arbeitet als Mathe- und Physiklehrer in Hamburg.
Kurz vor Beginn der Pandemie ist er fünf Monate lang durch Estland, Finnland, Singapur und Japan gereist, um herauszufinden, was diese Länder zu „Pisa-Gewinnern“ macht. Dafür hat er den Unterricht an verschiedenen Schularten besucht, mit Lehrkräften und Bildungsforschern gesprochen – und nach gemeinsamen Mustern gesucht, die von der Landesmentalität unabhängig sind und Deutschland als Vorbild dienen könnten.
Ein Beispiel: Es gibt „Auffangnetze“ für leistungsschwache Schüler. An Schulen in Estland hat jede Lehrkraft eine wöchentliche Schülersprechstunde für offene Fragen, die Schüler ohne Scheu nutzen. In Finnland gibt es bis zur neunten Klasse Fördergruppen, die man parallel zum Unterricht besuchen kann, wenn man sich in einem Fach gerade schwertut. „Lehrkräfte werden dort nicht mit der Verantwortung alleingelassen, alle Probleme in Eigenregie und während der Stunde lösen zu müssen“, sagt Brand.
Beeindruckt haben ihn auch der Teamgeist und die Offenheit zwischen den Kollegen. In Japan etwa besuchen sich Lehrkräfte regelmäßig gegenseitig im Unterricht – auch in größeren Gruppen – und tauschen sich anschließend darüber aus. In Deutschland sind Unterrichtsbesuche meist mit Stress verbunden, Lehrkräfte werden im Studium zu Einzelkämpfern erzogen.
Nicht zuletzt spielt Schule in den besuchten Ländern eine andere Rolle. Eine estnische Schülerin hat ihm erzählt, wie erstaunt sie war, als bei ihrem Schüleraustausch in Deutschland alle nach dem Unterricht nach Hause gegangen sind. „Das kannte sie gar nicht“, sagt Brand. „Schule ist dort nicht nur ein Lernort, sondern ein Lebensort.“
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