„Schüler, die Unterstützung brauchen, erhalten sie auch“

Die Augsburger Allgemeine hat mich zu den Ergebnissen von PISA 2022 interviewt.

Herr Brand, Sie waren fünf Monate lang in Ländern unterwegs, die bei der PISA-Studie in den vergangenen Jahren am besten abgeschnitten haben: Estland, Finnland, Japan und Singapur. In welchem dieser Länder wären Sie am liebsten Lehrer? 

Alexander Brand: Tatsächlich in Singapur. Dort haben Lehrkräfte sehr viele Angebote zur Fort- und Weiterbildung, sie bekommen hundert Stunden bezahlte Fortbildungszeit pro Jahr. Und sie planen Unterrichtsprojekte im Team, das ist natürlich auch eine tolle Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln. Ich konnte an ein paar solcher Sitzungen teilnehmen und war von der Qualität der didaktischen Diskussion stark beeindruckt. Ich glaube, ich würde als Lehrer dort am meisten lernen.

Und wo wären Sie am liebsten Schüler? 

Brand: Ich glaube in Estland. Ich habe eine estnische Schülerin interviewt, die schon ein Jahr in Deutschland verbracht hatte. Sie war erstaunt, dass im deutschen Schulsystem nach dem Unterricht alle Kinder und Jugendliche nach Hause gehen. In Estland ist Schule wirklich ein Lebensraum. Die Schülerin bleibt dort auch nach Unterrichtsschluss. Dort hat sie viele Freiheiten, gemeinsam mit anderen Jugendlichen Projekte zu starten. Sie hat eine Fashionshow organisiert, ein Café eröffnet in der Schule. Lehrkräfte unterstützen die Schülerinnen und Schüler dabei, eigene Projekte auf die Beine zu stellen und so auch wichtige Kompetenzen zu erlernen. Ich glaube, das würde ich mir auch als Schüler wünschen – dass Schule nicht nur rein Lernort ist. Jetzt, im Zusammenhang mit dem Ganztagsunterricht, wäre das auch für Deutschland eine schöne Perspektive: Nicht alles, was wir an Bildung an unsere Kinder weitergeben wollen, muss in einer Unterrichtsstunde passieren. 

Gibt es Grundprinzipien, die alle diese Länder teilen?

Brand: Ein Muster ist, dass in diesen Schulsystemen die Erwartungen an die Schülerinnen und Schüler in Bezug auf das, was sie fachlich leisten können, relativ hoch sind – und zwar für alle. Was angepasst wird, ist der Grad der Unterstützung. Schülerinnen und Schüler, die mehr Unterstützung brauchen, erhalten sie auch. Das kann zum Beispiel in Form einer Schülersprechstunde sein – oder parallel zum regulären Unterricht stattfinden. In Finnland ist es zum Beispiel so, dass ein Kind, wenn es etwa im Finnisch-Unterricht hinterherhinkt oder einfach länger krank war, parallel zum Unterricht in einer Kleingruppe lernen kann, vielleicht in zwei von vier Stunden, und dann von einer spezialisierten Lehrkraft zusätzlich gefördert wird. Es gibt also Auffangnetze, die dazu dienen, Schülerinnen und Schüler eine zweite Chance zu geben. In Deutschland wird diese Unterstützung eher vom Elternhaus als von der Schule erwartet. Es liegt an uns zu überlegen: Wie könnte so ein Prinzip im deutschen Schulsystem umgesetzt werden? 

Hierzulande heißt es ja immer, dass die Personalnot der Grund dafür ist, dass kaum individuelle Förderung geleistet werden kann. Wäre auch in Deutschland mehr möglich, trotz des Lehrkräftemangels?

Brand: Der Lehrkräftemangel ist nicht in allen PISA-Ländern gleich ausgeprägt. Estland hat in dieser Hinsicht ein Problem, aber das Land hat viele Lehrkräfte mit einer Art „Augen zu und durch“-Mentalität, die dann bis zu 30 Stunden die Woche unterrichten, weil es sonst nicht geht. Das ist dann bezahlte Mehrarbeit – und überhaupt nicht gesund. Andere Länder, wie Finnland, haben weniger Probleme mit dem Lehrkräftemangel. Das hat auch kulturelle oder historische Gründe, weshalb der Beruf so beliebt ist. In Singapur haben sie über Jahrzehnte in die Professionalisierung und in die Steigerung des Ansehens des Berufs investiert, sodass wirklich die Besten dort Lehrkräfte werden wollen.

Man hat bestimmte Stereotype im Kopf, wenn man an Schule in Asien denkt. Sie kommen nicht von ungefähr, sind aber auch nicht komplett richtig.

Könnte Deutschland trotzdem mehr tun, was individuelle Förderung betrifft?

Brand: Ja, ich denke da zum Beispiel an eine Art duales Lehramtsstudium, in dem Lehramtsstudierende in höheren Semestern eingebunden werden, natürlich begleitet durch Mentoren an der Schule. Man könnte angehende Lehrkräfte schrittweise an ihre spätere Aufgabe heranführen – zum Beispiel, indem sie zunächst eine Kleingruppe übernehmen, dort die Fragen der Schülerinnen und Schüler beantworten. Das wäre für mich eine sinnvolle Lösung. So könnten sie selbst früh im Studium die nötige Erfahrung sammeln und die etablierten Lehrkräfte unterstützen. In Finnland ist eine solche schrittweise Annäherung an den Beruf ganz normal. 

Die Lehrkräfteausbildung ist in Deutschland auch ein großer Kritikpunkt: dass sie veraltet ist, zu statisch ist, in Sachen Digitalisierung hinterherhinkt. Wie geht es besser?

Brand: Wir haben in Deutschland die längste Lehrkräfteausbildung der Welt, die aber eigentlich viel mehr an der Uni stattfindet als in der Praxis. Wenn man Richtung Asien blickt, ist die reine Ausbildungszeit viel kürzer, aber man setzt eben viel mehr auf die Fortbildung über das gesamte Berufsleben hinweg. Die Anforderungen an Schule ändern sich immer schneller. Da muss einem eigentlich klar sein, dass es nicht reicht, einmal qualifiziert zu werden. Fortbildung muss auch hier eine viel größere und viel wichtigere Rolle spielen.

Gerade das japanische System setzt sehr auf Fleiß und Arbeit. Die Schülerinnen und Schüler helfen beim Putzen des Klassenzimmers, nach der Schule besuchen sie sogenannte Klubs, zum Beispiel für Basketball oder Musik, und üben dort bis in den Abend hinein. Ist das nicht auch eine Form von ungesundem Drill?

Brand: Man hat bestimmte Stereotype im Kopf, wenn man an Schule in Asien denkt. Sie kommen nicht von ungefähr, sind aber auch nicht komplett richtig. In Japan ist die Schule bis zur achten Klasse eher entspannt, legt den Fokus weniger auf das fachliche Lernen. Es geht eher darum, einen Charakter zu entwickeln, sich und die Gesellschaft kennenzulernen. Druck gibt es auch, aber vor allem ab der neunten Klasse. Dann geht es auf die Aufnahmeprüfungen an der Universität zu. Es spielt eine extrem wichtige Rolle, an welcher Uni man studiert, weil man von dort aus direkt bei seinem ersten Arbeitgeber landet, der in Japan oft auch ein lebenslanger Arbeitgeber bleibt. Bei uns entsteht der Druck eher in der vierten Klasse, wenn es um den Übertritt an eine weiterführende Schule geht. 

Herr Brand, Sie sind selbst Lehrkraft. Wie hat sich Ihr eigener Unterricht seit Ihrer großen Reise verändert?

Brand: Ich habe mitgenommen, dass der Austausch zwischen den Schülerinnen und Schülern, das kooperative Lernen, oft der bessere Ansatz ist, um mit Heterogenität umzugehen, als die Kinder und Jugendlichen individuell lernen zu lassen. Durch herausfordernde Fragen der Mitschülerinnen und Mitschüler und durch Diskussionen lernt man ganz, ganz viel – und das war auch ein Unterricht, den ich im Ausland oft gesehen habe.

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