Um die Potenziale der Digitalisierung zu nutzen, müssen Schulen das immer noch verbreitete Einzelkämpfertum aufbrechen. In meinem Beitrag für das Forum Bildung Digitalisierung berichte ich, wie Schulen in Singapur, Japan und Finnland auf die Zusammenarbeit von Lehrkräften setzen.
Es ist Freitag, kurz vor der Mittagspause in einer Sekundarschule in Singapur. Ich sitze im Lehrerzimmer und warte. Es ist der letzte Tag meines einwöchigen Besuchs an dieser Schule, und ich bin mit einer Gruppe von Mathematiklehrkräften verabredet, die sich bereit erklärt haben, mit mir über die Zusammenarbeit an ihrer Schule zu sprechen. Aber ich bin etwas früh dran und habe noch ein paar Minuten Zeit, um mich im Lehrerzimmer umzusehen.
Die meisten Lehrerzimmer in Singapur ähneln einem Großraumbüro; sie dienen als Arbeitsräume. Lehrkräfte desselben Faches sitzen zusammen oder haben ihren eigenen Raum. Jede Lehrkraft hat einen Schreibtisch und viel Stauraum für Unterrichtsmaterialien. An den dünnen Trennwänden zwischen den Tischen hängen Stundenpläne, Familienfotos und bunte Notizzettel. Die Schreibtische sind mit Arbeitsblättern, Kaffeetassen und den Laptops der Lehrkräfte bedeckt. Versteckt in der Ecke eines Schreibtisches entdecke ich ein rosa Stoffschwein und eine ungeöffnete Weinflasche.
Die professionelle Lerngemeinschaft in Singapur
Endlich sind meine Gesprächspartner da. Sie schlagen vor, dass wir uns bei einem Tee in der Lehrerküche unterhalten. Dort sei es gemütlicher. Auf dem Weg dorthin gehen wir an einem großen Konferenzraum vorbei. Hier trifft sich das gesamte Kollegium jeden zweiten Freitagmorgen von 7:30 bis 9 Uhr. Der Unterricht für die Schülerinnen und Schüler beginnt an diesem Tag erst um 9:30 Uhr. Die Lehrkräfte nutzen die Gelegenheit, sich in den Fachschaften abzusprechen oder sich gemeinsam fortzubilden. Häufig stellen Lehrkräfte didaktische Ansätze und Methoden, die sie im Unterricht erprobt haben, dem gesamten Kollegium vor.
Im Mittelpunkt steht das gemeinsame Hinterfragen der eigenen Praxis.
Auf unserem Weg durch das Schulgebäude kommen wir auch an mehreren kleinen Besprechungsräumen vorbei. Hier, so erfahre ich später, treffen sich Lehrkräfte-Teams wöchentlich zu sogenannten professionellen Lerngemeinschaften. Das Konzept stammt aus den USA. In festen Gruppen von etwa fünf bis sieben Lehrkräften eines Faches oder einer Jahrgangsstufe arbeiten sie ein Schuljahr lang zusammen. Gemeinsam planen sie Projekte für den Unterricht in ihren Klassen, diskutieren fachdidaktische Artikel und Bücher oder reflektieren gegenseitige Hospitationen. Im Mittelpunkt steht das gemeinsame Hinterfragen der eigenen Praxis.
Das Kollegium legt in Zusammenarbeit mit der Schulleitung jährlich die Schwerpunkte für die Arbeit in den Lerngemeinschaften fest. Die gewonnenen Erkenntnisse werden am Ende des Schuljahres in schulweiten didaktischen Konferenzen präsentiert, teilweise auch in Regionalkonferenzen mit Schulen des gleichen Bezirks. So werden neue Erkenntnisse auch in die Breite getragen.
Beim Gespräch in der Lehrerküche erfahre ich, dass die Kooperationsstrukturen an dieser Schule kein Einzelfall sind: Lerngemeinschaften, gut ausgestattete Arbeitsräume, didaktische Konferenzen – sie sind an allen Schulen etabliert, wenn auch in der konkreten Umsetzung unterschiedlich. Sie sind das Ergebnis einer durchdachten an der Wissenschaft orientierten Bildungspolitik.
Die drei Stufen der Kooperation
Wirft man einen Blick in die Forschung zur Kooperation von Lehrkräften, so stößt man schnell auf ein Modell von Cornelia Gräsel, Kathrin Fussangel und Christian Pröbstel. Sie unterscheiden zwischen drei Stufen der Kooperation in Schule: (1) den Austausch, bei dem Lehrkräfte lediglich Materialien oder Informationen weitergeben, (2) die arbeitsteilige Kooperation, bei der sich Lehrkräfte z. B. Korrekturen oder die Vorbereitung von Unterrichtseinheiten teilen, dabei aber weitgehend selbstständig arbeiten, und (3) die Ko-Konstruktion. Auf dieser Stufe, der intensivsten Form der Kooperation, lösen Lehrkräfte gemeinsam Probleme aus ihrer Unterrichtspraxis oder eignen sich neues Wissen an. Häufig entstehen gemeinsame Lernprodukte. Sie bringen ihre individuellen Kompetenzen mit ein, sind aufeinander angewiesen. Kurz: Sie bilden eine Lerngemeinschaft.
Während das singapurische Schulsystem professionelle Lerngemeinschaften erfolgreich für die Ko-Konstruktion nutzt, ist eine Kooperation, die über Austausch und Arbeitsteilung hinausgeht, auch in anderen Ländern selbstverständlich: zum Beispiel in Japan.
Das japanische Lesson Study-Modell
Bei der Lesson Study plant ein Team von Lehrkräften über mehrere Wochen hinweg gemeinsam eine Unterrichtsstunde.
Aber auch in dieser schlicht gestalteten Schule hat die Zusammenarbeit auf der höchsten Ebene, nämlich der Ko-Konstruktion, ihren Platz. In Japan haben Lehrkräfte dafür eine bemerkenswerte Methode entwickelt: die Lesson Study. Sie verbindet Fortbildung, Unterrichtsentwicklung und Kooperation auf elegante Weise und ist seit dem 19. Jahrhundert fester Bestandteil des Lehrerberufs. Bei der Lesson Study plant ein Team von Lehrkräften über mehrere Wochen hinweg gemeinsam eine Unterrichtsstunde. Die Stunde wird von einer Lehrkraft gehalten, während die anderen die Schülerinnen und Schüler genau beobachten, um Erkenntnisse über deren Lernprozesse zu gewinnen.
Bevor es jedoch an die Planung von solchen Forschungsstunden geht, trifft sich das gesamte Kollegium, um ein gemeinsames Ziel für die Arbeit in den Lesson Study Gruppen festzulegen – zum Beispiel die Stärkung des kooperativen Lernens. Oft verfolgt eine Schule ein solches Ziel über mehrere Jahre hinweg.
Die Sorgfalt, mit der eine Lesson Study geplant wird, ist beeindruckend. Ein Unterrichtsentwurf enthält neben der detaillierten Stundenplanung auch die Forschungsfragen der Lesson Study Gruppe. Am Tag der Unterrichtsstunde sind nicht nur die Lehrkräfte aus der Arbeitsgruppe als Beobachter anwesend, sondern oft auch viele andere Lehrerinnen und Lehrer. Das Klassenzimmer ist bis zum Rand gefüllt, manchmal mit mehr als 20 Gästen, die ihre eigenen Kopien des Unterrichtsentwurfs auf Klemmbrettern mitgebracht haben, um ihre Eindrücke festzuhalten. In der von mir besuchten Grundschule kann bei Platzmangel in jedem Klassenzimmer auch eine Wand zusammengefaltet werden, sodass die Gäste vom Flur aus dem Unterricht folgen können. In einer intensiven Nachbesprechung von bis zu 90 Minuten werden die Beobachtungen zur Stunde diskutiert.
Die Entprivatisierung von Unterricht
Die Selbstverständlichkeit, mit der japanische Lehrkräfte ihren Unterricht für andere öffnen, mag deutschen Lesern ungewohnt sein. Doch in japanischen Schulen wird Unterricht weniger als individuelles Unterfangen verstanden, sondern als Gemeinschaftswerk, an dem alle Lehrkräfte beteiligt sind. Im Fachjargon nennt man das die Entprivatisierung von Unterricht. Inzwischen haben viele Länder Lesson Study von den Japanern kopiert. Auch in Singapur nutzen einige Lerngemeinschaften das Format der Lesson Study, wenn auch in abgespeckter Form.
Warum tun wir uns in Deutschland mit solchen Formaten so schwer? Sicherlich fehlen an vielen Schulen die Rahmenbedingungen für eine solch intensive Zusammenarbeit: Räumlichkeiten, gemeinsame Zeitfenster, eine im internationalen Vergleich hohe Unterrichtsbelastung. Aber auch das Unbehagen, den eigenen Unterricht für andere zu öffnen, oder mit dem Kollegium offen über Unterrichtsqualität zu sprechen – und damit auch darüber, dass der eigene Unterricht möglicherweise verbesserungswürdig ist –, steht der Ko-Konstruktion im Weg. Sich verletzlich zeigen zu können, ist für die Entprivatisierung von Unterricht unabdingbar.
Die finnische Lehrerausbildung – dual und kooperativ
Welchen Beitrag die Lehrerbildung zur Entprivatisierung leisten kann, zeigt ein Blick nach Finnland. Dort gibt es weder ein Referendariat noch ein Staatsexamen, das angehende Lehrkräfte unter enormem Druck anhand weniger Unterrichtsbesuche benotet. Statt die Lehrerausbildung in zwei Phasen aufzuteilen, werden die Praxisphasen in das Studium integriert. Dazu wurden spezielle Übungsschulen in unmittelbarer Nähe der Universitäten eingerichtet.
In der finnischen Lehrerausbildung ist es üblich, dass die Studierenden viele ihrer Praxisphasen entweder im Tandem oder im Team absolvieren.
In einer solchen Grundschule lernen die 24 Schülerinnen und Schüler der 6c gerade die Anordnung von Subjekt, Prädikat und Objekt. Während der Grammatikstunde sitze ich hinten auf einem Sofa, von denen es hier – dank der vielen Hospitationen – in jedem Klassenzimmer eines gibt. Denn an den Übungsschulen übernehmen hauptsächlich Lehramtsstudierende den Unterricht, natürlich eng begleitet von speziell qualifizierten Betreuungslehrkräften, die selbst nur wenige Stunden in ihrer Klasse unterrichten.
In der finnischen Lehrerausbildung ist es üblich, dass die Studierenden viele ihrer Praxisphasen entweder im Tandem oder im Team absolvieren. Heute unterrichten zwei Studenten und eine Studentin sogar im Team. Alle drei sind im ersten Semester und haben heute ihren allerersten Lehrversuch. Mit ihrer Betreuerin haben sie diese Stunde sehr ausführlich gemeinsam geplant, wie es im ersten Studienjahr üblich ist. Im Laufe des Studiums erhalten die Studierenden dann immer mehr Verantwortung, bis sie auch selbstständig unterrichten können.
Ob Lehrerausbildung in Finnland, Unterrichtsentwicklung in Japan oder Teamstrukturen in Singapur: Leistungsstarke Schulsysteme fördern eine enge Kooperation – eine Kooperation, die Unterricht nicht zur Privatsache macht und Lehrerinnen und Lehrer gemeinsam wachsen lässt. Dafür braucht es gute Rahmenbedingungen. Es braucht gemeinsame Arbeitsräume und Zeitfenster für Kooperation. Es braucht ein Referendariat mit weniger Einzelkämpfertum und mehr bewertungsfreien Räumen, vielleicht sogar ein duales Studium, wie es in manchen Bundesländern bald erprobt wird. Und es braucht Führung, die ein Klima schafft, in dem Lehrkräfte sich trauen, über ihre Schwächen und Herausforderungen zu sprechen. Dann wird Kooperation nicht zum Kraftakt, sondern zur Kraftquelle.