Mit dem MDR habe ich über meine Erfahrungen in Schulen in Estland gesprochen.
MDR: Sie sind nach dem Studium in vier verschiedene Top-PISA-Länder gereist, um sich den Schulunterricht vor Ort anzuschauen – darunter auch Estland, dem europäischen Spitzenreiter in Sachen Bildung. Was unterscheidet das Schulsystem von unserem?
Alexander Brand: In estnischen Schulen gibt es bessere Strukturen, um die Schülerinnen und Schüler aufzufangen, die im regulären Unterricht nicht gut zurechtkommen. In den weiterführenden Schulen bieten die Lehrkräfte zum Beispiel wöchentliche Sprechstunden an. Wenn jemand hinterherhinkt, gibt es dort Zeit, um von einer Lehrkraft Eins-zu-Eins Hilfe zu bekommen. Und auch in der Grundschule gibt es dafür Strukturen. Das sind dann kleinere Gruppen, die parallel zum Unterricht stattfinden. Solche Modelle sind Auffangnetze, die dafür sorgen, dass niemand zurückgelassen wird.
Ließe sich so etwas nicht auch in Deutschland umsetzen?
Lehrkräfte müssen bei uns im internationalen Vergleich sehr viel unterrichten – in manchen Bundesländern bis zu 28 Stunden pro Woche. In Japan und Singapur zum Beispiel ist das Deputat deutlich niedriger. Man müsste also schauen, wie man Lehrkräfte entlasten kann – vielleicht beim Unterricht oder bei Verwaltungsaufgaben. Wie könnte man auch Assistenzlehrkräfte einsetzen, um solche Förderung zu bieten – zum Beispiel Lehramtsstudierende? Da gibt es interessante Modelle.
In Deutschland und auch in Sachsen-Anhalt kämpfen wir mit massivem Lehrermangel, der als eines der Probleme für die schlechten PISA-Ergebnisse angesehen wird. Doch Estland hat ein ähnliches Problem. Warum schneiden die Schülerinnen und Schüler dort trotzdem besser ab?
Der Lehrkräftemangel wird Estland langfristig vor große Probleme stellen. Die aktuell guten Ergebnisse werden sich vielleicht nicht halten können. Die Gründe für die guten Ergebnisse sehe ich bei dem, wie Unterricht und Schule dort jetzt funktionieren. Zum Beispiel beim Fokus auf Basiskompetenzen. Natürlich sollen unsere Schülerinnen und Schüler kreativ sein, kritisch denken und gut kommunizieren können. Aber das geht nicht, wenn sie nicht lesen, schreiben und rechnen können. Und das muss viel geübt werden. Ich habe oft gesehen, wie Schülerinnen und Schüler mit Laptops Rechenübungen gemacht haben und dafür spielerisch mit digitalen Punkten belohnt wurden. Das hat viele motiviert.
Große Veränderungen brauchen in so einem großen Tanker wie dem Schulsystem in der Regel viele Jahre.
In Deutschland wird immer wieder über die nur langsam voranschreitende Digitalisierung in Schulen debattiert. Wie weit ist Estland uns da voraus?
Estland ist bekannt für seine Digitalisierung – auch in Staat und Verwaltung. Und die Schulen, die ich besucht habe, waren auch sehr weit – vor allem, was die Infrastruktur betrifft. Aber ich habe die Digitalisierung dort nicht unbedingt als Allzweckwaffe wahrgenommen. Sie wurde sehr gezielt eingesetzt, um zum Beispiel Lehrkräfte von Verwaltungsaufgaben zu entlasten. Die Schulen hatten flächendeckend digitale Klassenbücher eingeführt. Auch wenn es darum ging, Feedback an Schülerinnen und Schüler zu geben, wurden häufig digitale Medien eingesetzt. Digitale Schulbücher konnten sehr schnell die Aufgaben von Schülerinnen und Schülern auswerten – das muss nicht unbedingt die Lehrkraft machen.
Wie lange bräuchten wir, damit so etwas auch in Deutschland Realität werden könnte?
Große Veränderungen brauchen in so einem großen Tanker wie dem Schulsystem in der Regel viele Jahre. Mit dem Digitalpakt haben wir in vielen Schulen zumindest die technische Ausstattung – also Endgeräte, WLAN und so weiter. Jetzt müssen wir den Schritt gehen und mehr in die Fortbildung investieren, damit Lehrkräfte digitale Medien auch gut einsetzen können.
Halbtagsschulen, wie es sie in Deutschland oft noch gibt, sind in den Ländern, die ich besucht habe, eher selten.
Wie unterscheidet sich der Schulalltag in Estland von dem der Kinder in Deutschland?
Mein Eindruck war, dass Schule in Estland mehr als Lebensraum gesehen wird. Ich habe mit einer estnischen Schülerin gesprochen, die ein Schuljahr in Deutschland verbracht hat. Was sie am meisten überrascht hat, war, dass in Deutschland jeder nach Unterrichtsschluss nach Hause geht. In Estland bleibt man dagegen länger in der Schule, trifft sich mit anderen Jugendlichen und stellt eigene Projekte auf die Beine. Sie erzählte von einer Modeausstellung und von einem Sprachcafé, das sie mit ihren Freundinnen gegründet hat. Es gibt auch eine feste Lehrkraft, die die Schülerinnen und Schüler bei ihren Projekten unterstützt. Halbtagsschulen, wie es sie in Deutschland oft noch gibt, sind in den Ländern, die ich besucht habe, eher selten.
Sie waren zudem in Finnland, Japan und Singapur. Welche Ideen und Ansätze haben sie aus diesen Ländern besonders beeindruckt?
In Finnland hat mich besonders die Lehrkräfteausbildung beeindruckt. Dort sind Studium und Referendariat nicht getrennt, sondern finden parallel statt – wie ein duales Studium. Theorie und Praxis sind viel stärker miteinander verzahnt. An jeder Universität gibt es eine Ausbildungsschule, an der die Lehramtsstudierenden das Gelernte direkt anwenden können – und nicht erst Jahre später wie bei uns. Und es ist auch ein bewertungsfreier Raum. Bei uns ist das Referendariat mit einem hohen Leistungsdruck verbunden. Es wird ein perfekter Unterricht erwartet. Das habe ich in Finnland anders erlebt. Dort wird mit viel mehr Vertrauen gearbeitet und ausgebildet. Lehramt ist in Finnland allgemein ein beliebter und begehrter Studiengang. Im Grundschullehramt bekommen nur rund zehn Prozent der Bewerberinnen und Bewerber einen Studienplatz.
Ich wünsche mir, dass wir uns genau überlegen, was die Aufgabe von Lehrkräften ist und was nicht.
In Singapur haben Lehrkräfte jedes Jahr Anspruch auf 100 Stunden Fortbildungszeit, die häufig im Team verbracht wird. Dort treffen sich Lehrkräfte wöchentlich in kleinen Gruppen und arbeiten gemeinsam an ihrem Unterricht. Ich war bei einer solchen Sitzung für den Mathematikunterricht dabei. Die Lehrkräfte haben dort ein gemeinsames Projekt geplant und didaktisch intensiv diskutiert, was für ihren Unterricht der richtige Weg ist. Es braucht diese Investition in Fortbildung. Der Lehrerberuf ist so komplex, dass man nicht einfach nach ein paar Jahren Ausbildung sagen kann: „Okay, das reicht jetzt für immer“. Es ändert sich zu viel.
Was haben Sie persönlich für Ihren eigenen Unterricht mitgenommen?
Oft sind es Kleinigkeiten. Ich versuche zum Beispiel, mehr Möglichkeiten zu schaffen, schon vor der Klassenarbeit zu sehen, was die Schülerinnen und Schüler gelernt haben. Ich benutze zum Beispiel Mini-Whiteboards. Ich stelle eine Frage und jeder Schüler hat so ein kleines Whiteboard, schreibt seine Antwort darauf und hält das Whiteboard hoch. Dann sehe ich von allen, was in ihren Köpfen steckt. Viele solcher kleinen Methoden habe ich aus dem Ausland mitgenommen.
Die deutschen Schülerinnen und Schüler haben im internationalen Leistungsvergleich PISA 2022 so schlecht abgeschnitten wie noch nie zuvor. Was fordern Sie von der Politik für die Zukunft an Deutschlands Schulen?
Ich wünsche mir, dass wir uns genau überlegen, was die Aufgabe von Lehrkräften ist und was nicht. Der Beruf ist so vielfältig und anspruchsvoll geworden, dass wir auch andere Fachkräfte an den Schulen brauchen, die die Lehrkräfte entlasten können. Zum Beispiel IT-Fachleute und auch mehr Verwaltungspersonal. Es kann nicht sein, dass Lehrkräfte mehrere Stunden in der Woche mit Verwaltungsaufgaben beschäftigt sind oder Klassenreisen selbst organisieren müssen.