Beim internationalen Vergleich von Schulsystemen laufen die Diskussionen – so mein Eindruck – in eine von zwei Richtungen:
- »Schau doch die Finnen an! Die machen X und sind erfolgreich! Warum können wir nicht so sein wie Finnland?« oder…
- »Finnland ist nicht Deutschland. Deswegen wird X bei uns nicht funktionieren.«
X steht dabei für eine beliebige Schulreform, für oder gegen die gerade plädiert wird. Wenn von Finnland die Rede ist, heißt X oft strenge Kriterien bei der Auswahl von Studierenden für das Lehramt. Finnische Abiturientinnen und Abiturienten müssen ein intensives Auswahlverfahren durchlaufen, um zum Lehramtsstudium zugelassen zu werden. Und nach vielen Tests und Interviews schafft es nur ein Bruchteil: Von allen Bewerbungen fürs Grundschullehramt erhalten jedes Jahr nur ca. 10 % eine Zusage.
X steht oft auch für längeres gemeinsames Lernen. Bis zur 9. Klasse besuchen alle Schülerinnen und Schüler zusammen eine Schule und können dann entweder flexibel in 3 – 4 Jahren das Abitur machen oder einen ausbildungsähnlichen Zweig belegen, der auch zur Aufnahme eines Studiums berechtigt.
Die Auffassung, man könne von anderen Schulsystemen nichts lernen, teile ich offensichtlich nicht – sonst hätte meine Reise wenig Sinn. Doch die Argumentation: »Land X macht Y und ist erfolgreich; wir sollten uns ein Beispiel daran nehmen« führt ebenfalls in die Irre.
Nicht die Rosinen, sondern der Kuchen
Nicht nur Finnland hat strenge Kriterien für Lehramtsstudierende, sondern laut OECD auch Brasilien, Türkei und Griechenland – und alle drei schneiden unterdurchschnittlich ab, Brasilien sogar auf einem der letzten Plätzen des PISA-Rankings. Nur die besten Schulabgänger zum Lehramt zuzulassen, reicht offenbar nicht aus.
In Singapur, welches mit Abstand den Spitzenplatz belegt, müssen Schülerinnen und Schüler mit 12 Jahren die Primary School Leaving Examination – eine Art Grundschulabitur – ablegen und werden auf fünf Schulformen verteilt, welche die Chancen im Bildungssystem und im Beruf maßgeblich festsetzen.
Um es klarzustellen: Ich plädiere weder für ein stark differenziertes System wie in Singapur noch für laxe Auswahlkriterien fürs Lehramtsstudium. Im Gegenteil. Diese Beispiele verdeutlichen aber, dass es für ein Schulsystem kein Allheilmittel gibt – alles funktioniert irgendwo, aber nichts funktioniert überall.
Nur einen Aspekt eines Bildungssystems herauszugreifen, bestätigt die eigene, oft schon festgelegte Ansicht, was in Deutschland falsch läuft. Man beginnt mit einer Reform, die man hier umgesetzt sehen will, und sucht sich ein Land aus, das diese umgesetzt hat und besser als Deutschland abschneidet. Fertig.
Statt nur die einzelnen Rosinen aus anderen Schulsystemen herauszupicken, sollten wir den Rosinenkuchen als Ganzes betrachten: Wie hängen die Elemente des Systems zusammen? Welche Voraussetzungen mussten gegeben sein, damit diese oder jene Reform ihre Wirkung entfalten konnte? Wahrscheinlich gibt es verschiedene Wege zum Erfolg. Interessanter als die einzelnen Systemelemente sind die Grundprinzipien, nach denen das Schulsystem aufgebaut ist.
Die »Das-klappt-hier-nicht-Brille«
Das Gegenstück zum Rosinenpicken ist die »Das-klappt-hier-nicht-Brille«. Für jedes Land findet man einen Grund, warum sich eine bildungspolitische Maßnahme angeblich nicht auf Deutschland übertragen lasse: Finnland ist ein Land mit nicht mal 6 Millionen Einwohnern; Estland hat 1,3 Millionen. Eine Reform, die dort funktioniert, könne doch kaum in einem Land klappen, das mit 83 Millionen Einwohnern über 60-mal so groß ist.
Ein weiterer beliebter Einwand: Die Kultur in den asiatischen Ländern sei zu verschieden von unserer; Bildung habe dort einfach einen anderen Stellenwert.
Natürlich liegt in jedem dieser Punkte ein Körnchen Wahrheit. Doch ich sehe die eigentliche Gefahr darin, den Erfolg anderer zu ignorieren, bloß weil die Voraussetzungen nicht eins zu eins den deutschen entsprechen. Zumal Deutschland nicht ein Schulsystem hat, sondern 16 verschiedene. Finnland hat zwar keine 83 Millionen Einwohner, aber mehr als Sachsen, Rheinland-Pfalz und neun andere Bundesländer; Estland hat ungefähr so viele wie Mecklenburg-Vorpommern. Der Föderalismus entkräftet jeden Einwand, man könne vom Schulsystem des »kleinen« Finnlands nichts lernen.
Doch was, wenn nicht das Schulsystem den Bildungserfolg ausmacht, sondern eine diffuse, kulturelle Einstellung zu Schule?
Die kulturelle Einstellung zu Schule in einem anderen Land kann genauso ein Vorbild für uns sein wie eine bestimmte Schulstruktur. Wer behauptet, unsere Einstellungen zu Schule und Lernen wären in Stein gemeißelt? Wenn wir an irgendeiner Stelle die Einstellungen und Werte der nächsten Generation verändern wollen, dann ist Schule neben dem Elternhaus der beste Ort, dies zu tun. Wir dürfen nicht ausschließen, dass Deutschland sich von der Kultur in Asien etwas abschauen könnte.
Vermutlich sind nicht nur die Einstellungen der Schülerinnen und Schüler und Eltern für den Bildungserfolg wichtig, sondern zu großen Teilen auch die Haltungen der Lehrkräfte. Und darauf möchte ich meinen Schwerpunkt legen: Was wir von den besten Schulsystemen mitnehmen können ist womöglich keine Schulreform, sondern eine Haltungsreform – und die fängt bei uns Lehrkräften an.