In Estland habe ich ein Schulsystem im Spannungsfeld zwischen Tradition und Digitalisierung erlebt.
Es war schon einige Jahre her, dass ich das letzte Mal zur Schulleitung ins Büro bestellt wurde. Doch nun war ich nicht mehr Schüler, sondern Fragesteller. Gewappnet mit Notizbuch und einer Tasse Kaffee begab ich mich zum Gespräch. Mein Gegenüber, die gestandene Schulleiterin einer estnischen Sekundarschule, hatte sich großzügigerweise bereit erklärt, mir von ihrer Perspektive auf das Schulsystem zu erzählen. Eine Englischlehrerin übersetzte die Frage, die ich die nächsten Wochen Dutzende Male stellen würde: Was ist der Grund für den Erfolg des estnischen Schulsystems?
Seit Jahren erlauben es Erhebungen wie die PISA-Studie, die Wirksamkeit von Schulsystemen zu vergleichen. In der PISA-Runde 2018 kletterte Estland an die Spitze der Rangliste europäischer Länder. Es wundert daher nicht, dass viele einen Blick in die Bildungssysteme werfen möchten, die die nächste Generation anscheinend mit Erfolg auf die Welt von morgen vorbereiten.
Und jetzt war ich einer von ihnen.
Mit meinem Lehramtsabschluss in der Tasche tauschte ich den Uni-Hörsaal gegen Klassenzimmer in Estland, Japan, Singapur und Finnland ein. Fünf Monate habe ich dort verbracht, um herauszufinden, was hinter den Statistiken steckt. In Estland, meinem ersten Stopp, durfte ich sieben Schulen besuchen.
Ein Abschluss in Informatik war das Studienziel Nummer eins
Bei einem Spaziergang durch die Hauptstadt Tallinn könnte man meinen, man schlendere durch eine mittelalterliche Kleinstadt. Doch jenseits der Burgen, die das Stadtbild prägen, trifft man auf ein Land, das in den vergangenen Jahrzehnten einen enormen digitalen Wandel erfahren hat. Schon 1994 erkannte die Politik die Digitalisierung als Zukunftsträger und begann, die Grundprinzipien einer estnischen Informationsgesellschaft aufzustellen. Heute sind 99 Prozent der Verwaltungsgänge digitalisiert. Nur zur Heirat, Scheidung oder zum Immobilienkauf müssen Esten persönlich erscheinen. Sogar wählen gehen können sie von zu Hause aus, auf ihrem Laptop mit einer digitalen ID-Karte.
Im Regelfall stellen Schulen Bildungstechnologen ein, die Lehrkräfte beim Medieneinsatz unterstützen und die Wartung der Geräte übernehmen.
Auch Schulen setzen auf Effizienz durch Digitalisierung. Seit 2002 können Lehrkräfte im digitalen Klassenbuch eKool (dt.: e-Schule) Hausaufgaben stellen, Noten und Absenzen dokumentieren und sich mit Eltern austauschen. Eine Studie ergab, dass Lehrkräfte mit eKool die Hälfte an Verwaltungsarbeit eingespart haben – täglich 45 Minuten. Ein Computer am Lehrerpult und ein Beamer oder Smartboard gehören zur Ausstattung eines jeden Klassenzimmers. Im Regelfall stellen Schulen Bildungstechnologen ein, die Lehrkräfte beim Medieneinsatz unterstützen und die Wartung der Geräte übernehmen. Nahezu alle Lehrkräfte, deren Unterricht ich beobachten konnte, schienen im Umgang mit digitalen Medien geübt zu sein.
Im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern merkte ich schnell, dass estnische Jugendliche die digitale Welt in ihre Zukunftspläne miteinbeziehen. Ein Abschluss in Informatik war das Studienziel Nummer eins. Ich habe Schulen besucht, in denen Kinder ab der dritten Klasse die Grundlagen des Programmierens kennen lernten. Robotik war an vielen Schulen fester Bestandteil des Lehrplans.
Der Technikeinsatz im Unterricht war geringer als erwartet
Doch nach mehreren Wochen Hospitation kam ich, zu meiner eigenen Überraschung, zu dem Schluss, dass der Technikeinsatz, mit Ausnahme der IT-nahen Fächer, nicht so hoch war, wie ich es von einem digitalen Vorreiterland erwartet hatte. Meistens nutzten Lehrkräfte digitale Medien, um etwas zu präsentieren, eine Stunde mit einem Lernspiel aufzulockern oder Schülerinnen und Schüler mit einer Mathe-Lernsoftware üben zu lassen. Selten wurden digitale Werkzeuge verwendet, um kooperativ oder an Projekten zu arbeiten.
Mich wunderte, dass ein so offensichtlich innovatives Land wie Estland auf doch recht traditionelle Unterrichtsmethoden setzt.
Tatsächlich konnte ich die schülerorientierte Didaktik, die viele sich von digitaler Schule versprechen, nicht beobachten. Hauptsächlich fand ein von der Lehrkraft stark geführter Unterricht statt. Das heißt nicht, dass Projektarbeit im Schulalltag keine Rolle spielte. An vielen Schulen gab es Koordinatoren, die die Jugendlichen bei der Umsetzung eigener Projektideen unterstützten. Im Unterricht aber war der Fokus auf das Fachliche gerichtet. Wenig Gruppenarbeit, wenig Differenzierung, viel gezieltes Üben – oft mit schwierigeren Aufgaben als in Deutschland.
Mich wunderte, dass ein so offensichtlich innovatives Land wie Estland auf doch recht traditionelle Unterrichtsmethoden setzt.
Gravierender Lehrkräftemangel prägt den Unterricht
In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Als Estland 1991 die Unabhängigkeit von den Sowjets erlangte, standen Staat und weite Teile der Bevölkerung vor dem Nichts. Mit leeren Kassen blieben dem Land nur wenige Möglichkeiten, einen funktionierenden Staat und eine starke Wirtschaft aufzubauen. In vielerlei Hinsicht musste Estland wie ein riesiges Start-up handeln und auf Innovation setzen. Die damaligen Entscheidungsträger bewiesen den Weitblick, von Anfang an einen Digitalstaat aufzubauen. Gleichzeitig fehlten Estland die Mittel, einen traditionellen Staatsapparat mit Personal und Bürgerbüros nach dem Vorbild reicherer Nationen zu finanzieren. Die digitale Innovation war notgedrungen, die effizienteste Lösung.
Die gebotene Sparsamkeit zeigt sich noch heute an dem dürftigen Gehalt der estnischen Lehrkräfte. Bei einem gerade noch vierstelligen Gehalt kämpfen viele damit, ihre Familien zu ernähren. Wegen des niedrigen Lohns haben Schulen oft massive Probleme, ihre Stellen zu besetzen. Viele Lehrkräfte nehmen Überstunden in Kauf, um den Lehrkräftemangel zu kompensieren und ihr Gehalt aufzustocken. Ein Lehrer erzählte mir, wie er ein halbes Jahr lang 40 Stunden pro Woche unterrichtete und somit fast doppelt so viel verdiente wie sonst.
Viele Lehrkräfte nehmen Überstunden in Kauf, um den Lehrkräftemangel zu kompensieren und ihr Gehalt aufzustocken.
Ein Deutschlehrer, der ein Jahr vor der Pensionierung stand, kommentierte seinen Pensionsanspruch mit den Worten: „Zum Sterben ist es zu viel, zum Leben reicht es nicht.“ Er müsse auf absehbare Zeit weiterarbeiten. Lehrkräfte über 70 seien keine Ausnahme. Wenn junge Lehrkräfte in den Beruf eintreten – oft per Quereinstieg –, bleiben sie nicht lange. Nach fünf Jahren verlässt etwa die Hälfte den Beruf für eine andere Arbeit, zum Beispiel im lukrativen IT-Sektor.
Der gravierende Lehrkräftemangel beeinflusst den vorherrschenden Unterrichtsstil. Denn in Estlands Schulen arbeitet eine immer älter werdende Lehrerschaft. Die 2018 TALIS-Studie erfasste das Alter von Lehrkräften in 48 Industriestaaten. Nach Litauen hatte Estland mit 54 Prozent den größten Anteil an über 50-jährigen Lehrkräften der Sekundarstufe. Vor zehn Jahren waren es noch 39 Prozent gewesen.
Eins-zu-eins-Förderung außerhalb des Unterrichts
Meine Gesprächspartnerin, die anfangs erwähnte Schulleiterin, hatte eine Hypothese. Ihrer Meinung nach seien gerade die Lehrkräfte der älteren Generation der Grund für die guten Leistungen: „Eine 50-jährige Lehrkraft ist eine überaus fleißige Arbeiterin. Sie nimmt die Aufgabe, das Wissen zu den Schülerinnen und Schülern zu bringen, sehr ernst und übernimmt Verantwortung, wenn etwas schiefgeht.“
Diese Vermutung habe ich während meines Aufenthalts immer wieder gehört. Die älteren Lehrkräfte – meistens Lehrerinnen – würden besonders darauf achten, leistungsschwache Schülerinnen und Schüler auf ein akzeptables Niveau zu bringen. In Klassenstärken mit oft bis zu 40 Kindern ist das keine geringe Leistung. Statt während des Unterrichts individuell zu unterstützen, treffen sich Lehrkräfte mit Schülerinnen und Schülern außerhalb der Unterrichtszeit in den Pausen oder in wöchentlichen Sprechstunden. Wer kurz davorsteht, das Klassenziel zu verfehlen, erhält während der Sommerferien Eins-zu-eins-Unterstützung.
Statt während des Unterrichts individuell zu unterstützen, treffen sich Lehrkräfte mit Schülerinnen und Schülern außerhalb der Unterrichtszeit in den Pausen oder in wöchentlichen Sprechstunden.
Diese fast märtyrerhafte Arbeitshaltung ist nicht nur für Lehrkräfte typisch, sondern spiegelt das allgemeine Ethos Estlands von Ehrgeiz und Disziplin wider – vermutlich ein Überbleibsel der Zeit, als sich das Land den Weg aus der Armut zu einer wachsenden Volkswirtschaft erkämpfte.
„Es ist weniger eine Wettbewerbskultur“, erklärte eine Lehrerin. „Esten erwarten einfach nicht, im Leben etwas geschenkt zu bekommen. Man muss sich alles hart erarbeiten. Leiden ist ein normaler Teil des Lebens.“ Allmählich beginnen jüngere Esten – und jüngere Lehrkräfte – diese Mentalität infrage zu stellen und fordern eine gesündere Work-Life-Balance. Doch die Lehrkräfte der alten Schule, die im Bildungssystem überwiegen, verlangen den gewohnten Arbeitseifer stets auch von ihren Schülerinnen und Schülern.
Paradoxerweise scheinen die Lehrkräfte des 20. Jahrhunderts für die Lorbeeren eines Schulsystems des 21. Jahrhunderts verantwortlich zu sein. Doch wenn es Estland nicht schafft, junge Leute für den Lehrberuf zu gewinnen, ist zu bezweifeln, dass diese Rechnung auch in Zukunft aufgeht. Der Fall Estland zeigt, dass auch ein PISA-Vorreiter Gegensätze offenbart, wenn man unter die Oberfläche blickt.
Dieser Beitrag wurde zuerst im Deutschen Schulportal veröffentlicht.