Kategorie: Allgemeines

Diskussion: Lehrkräfte für die Digitalisierung fortbilden

Wie unterstützen leistungsstarke Schulsysteme ihre Lehrkräfte dabei, mit den Herausforderungen der Digitalisierung umzugehen?

Ich hatte die Möglichkeit, auf der Fachtagung educate! 2022 an einer Podiumsdiskussion zu diesem Thema teilzunehmen. Zusammen mit Heinz-Peter Meidinger vom Deutschen Lehrerverband und Dirk Schreiber vom Forschungsinstitut Bildung Digital diskutierten wir, welche Rahmenbedingungen und welche Art von Fortbildung es braucht, damit Lehrkräfte digitale Bildung in Schulen gut umsetzen können.

Aus meiner Sicht können wir dabei drei Lektionen aus dem Ausland lernen.

  1. Lehrerinnen und Lehrer durch IT-Fachkräfte entlasten: In Estland gibt es schon seit Jahren an jeder Schule festangestellte Bildungstechnologen, die die Wartung der Endgeräte und der sonstigen Infrastruktur übernehmen. Auch in anderen Schulsystemen ist es der Standard, dass IT-Fachkräfte zum Schulpersonal dazugehören. Lehrkräfte sollten sich auf die Tätigkeiten konzentrieren können, für die sie ausgebildet sind und die beste Expertise besitzen.
  2. Zeit für kontinuierliche Fortbildung schaffen: Die Fortbildungsforschung zeigt: Einmalige „One-Shot“-Fortbildungen sind weniger wirksam als regelmäßige, kontinuierliche Weiterbildungen. Dafür braucht es ein geringeres Unterrichtsdeputat und Zeitfenster im Stundenplan für die Kooperation zwischen Lehrkräften. Unterrichtsentwicklung, Kooperation und Fortbildung sollten kombiniert werden, z.B. in Form von professionellen Lerngemeinschaften.
  3. Zusammenarbeit zwischen Schulen stärken: Vielfalt im Schulsystem ist begrüßenswert. Aber wie schaffen wir es, dass darunter nicht auch die Qualität leidet – z.B. in Bezug auf die Praktiken der digitalen Bildung? In anderen Ländern spielt deshalb die Kooperation und der Austausch zwischen Schulen eine größere Rolle. Zum Beispiel bilden in Singapur je 12 bis 14 Schulen ein Schulcluster-Team. Sie treffen sich regelmäßig in Cluster-Konferenzen, um Best Practices voneinander abzuschauen. Wir brauchen in Deutschland einen Mechanismus, der die Innovationen einzelner Schulen in die Breite trägt.

Die Aufzeichnung der Diskussion gibt es unter diesem Link zu sehen.

Rosinenpicken und andere Gefahren des Ländervergleichs

Beim internationalen Vergleich von Schulsystemen laufen die Diskussionen – so mein Eindruck – in eine von zwei Richtungen:

  1. »Schau doch die Finnen an! Die machen X und sind erfolgreich! Warum können wir nicht so sein wie Finnland?« oder…
  2. »Finnland ist nicht Deutschland. Deswegen wird X bei uns nicht funktionieren.«

X steht dabei für eine beliebige Schulreform, für oder gegen die gerade plädiert wird. Wenn von Finnland die Rede ist, heißt X oft strenge Kriterien bei der Auswahl von Studierenden für das Lehramt. Finnische Abiturientinnen und Abiturienten müssen ein intensives Auswahlverfahren durchlaufen, um zum Lehramtsstudium zugelassen zu werden. Und nach vielen Tests und Interviews schafft es nur ein Bruchteil: Von allen Bewerbungen fürs Grundschullehramt erhalten jedes Jahr nur ca. 10 % eine Zusage.

X steht oft auch für längeres gemeinsames Lernen. Bis zur 9. Klasse besuchen alle Schülerinnen und Schüler zusammen eine Schule und können dann entweder flexibel in 3 – 4 Jahren das Abitur machen oder einen ausbildungsähnlichen Zweig belegen, der auch zur Aufnahme eines Studiums berechtigt.

Die Auffassung, man könne von anderen Schulsystemen nichts lernen, teile ich offensichtlich nicht – sonst hätte meine Reise wenig Sinn. Doch die Argumentation: »Land X macht Y und ist erfolgreich; wir sollten uns ein Beispiel daran nehmen« führt ebenfalls in die Irre.

Nicht die Rosinen, sondern der Kuchen

Nicht nur Finnland hat strenge Kriterien für Lehramtsstudierende, sondern laut OECD auch Brasilien, Türkei und Griechenland – und alle drei schneiden unterdurchschnittlich ab, Brasilien sogar auf einem der letzten Plätzen des PISA-Rankings. Nur die besten Schulabgänger zum Lehramt zuzulassen, reicht offenbar nicht aus.

In Singapur, welches mit Abstand den Spitzenplatz belegt, müssen Schülerinnen und Schüler mit 12 Jahren die Primary School Leaving Examination – eine Art Grundschulabitur – ablegen und werden auf fünf Schulformen verteilt, welche die Chancen im Bildungssystem und im Beruf maßgeblich festsetzen.

Um es klarzustellen: Ich plädiere weder für ein stark differenziertes System wie in Singapur noch für laxe Auswahlkriterien fürs Lehramtsstudium. Im Gegenteil. Diese Beispiele verdeutlichen aber, dass es für ein Schulsystem kein Allheilmittel gibt – alles funktioniert irgendwo, aber nichts funktioniert überall.

Nur einen Aspekt eines Bildungssystems herauszugreifen, bestätigt die eigene, oft schon festgelegte Ansicht, was in Deutschland falsch läuft. Man beginnt mit einer Reform, die man hier umgesetzt sehen will, und sucht sich ein Land aus, das diese umgesetzt hat und besser als Deutschland abschneidet. Fertig.

Statt nur die einzelnen Rosinen aus anderen Schulsystemen herauszupicken, sollten wir den Rosinenkuchen als Ganzes betrachten: Wie hängen die Elemente des Systems zusammen? Welche Voraussetzungen mussten gegeben sein, damit diese oder jene Reform ihre Wirkung entfalten konnte? Wahrscheinlich gibt es verschiedene Wege zum Erfolg. Interessanter als die einzelnen Systemelemente sind die Grundprinzipien, nach denen das Schulsystem aufgebaut ist.

Die »Das-klappt-hier-nicht-Brille«

Das Gegenstück zum Rosinenpicken ist die »Das-klappt-hier-nicht-Brille«. Für jedes Land findet man einen Grund, warum sich eine bildungspolitische Maßnahme angeblich nicht auf Deutschland übertragen lasse: Finnland ist ein Land mit nicht mal 6 Millionen Einwohnern; Estland hat 1,3 Millionen. Eine Reform, die dort funktioniert, könne doch kaum in einem Land klappen, das mit 83 Millionen Einwohnern über 60-mal so groß ist.

Ein weiterer beliebter Einwand: Die Kultur in den asiatischen Ländern sei zu verschieden von unserer; Bildung habe dort einfach einen anderen Stellenwert.

Natürlich liegt in jedem dieser Punkte ein Körnchen Wahrheit. Doch ich sehe die eigentliche Gefahr darin, den Erfolg anderer zu ignorieren, bloß weil die Voraussetzungen nicht eins zu eins den deutschen entsprechen. Zumal Deutschland nicht ein Schulsystem hat, sondern 16 verschiedene. Finnland hat zwar keine 83 Millionen Einwohner, aber mehr als Sachsen, Rheinland-Pfalz und neun andere Bundesländer; Estland hat ungefähr so viele wie Mecklenburg-Vorpommern. Der Föderalismus entkräftet jeden Einwand, man könne vom Schulsystem des »kleinen« Finnlands nichts lernen.

Doch was, wenn nicht das Schulsystem den Bildungserfolg ausmacht, sondern eine diffuse, kulturelle Einstellung zu Schule?

Die kulturelle Einstellung zu Schule in einem anderen Land kann genauso ein Vorbild für uns sein wie eine bestimmte Schulstruktur. Wer behauptet, unsere Einstellungen zu Schule und Lernen wären in Stein gemeißelt? Wenn wir an irgendeiner Stelle die Einstellungen und Werte der nächsten Generation verändern wollen, dann ist Schule neben dem Elternhaus der beste Ort, dies zu tun. Wir dürfen nicht ausschließen, dass Deutschland sich von der Kultur in Asien etwas abschauen könnte.

Vermutlich sind nicht nur die Einstellungen der Schülerinnen und Schüler und Eltern für den Bildungserfolg wichtig, sondern zu großen Teilen auch die Haltungen der Lehrkräfte. Und darauf möchte ich meinen Schwerpunkt legen: Was wir von den besten Schulsystemen mitnehmen können ist womöglich keine Schulreform, sondern eine Haltungsreform – und die fängt bei uns Lehrkräften an.

Ein Ranking reicht nicht

Wie entscheide ich, welche Schulsysteme sich als Weltspitze qualifizieren? Der Projektname »Die PISA-Spitzen« bietet einen ersten Hinweis: Die prominente PISA-Studie soll mir erste Orientierung geben. Warum PISA und nicht TIMSS, IGLU, ICILS oder FURS? Nun ja, ein Grund liegt auf der Hand: Von den letzten vier hat der Großteil der Menschen noch nie etwas gehört. Dass der letzte Test frei erfunden ist, ist auch niemandem aufgefallen.

Notwendig, aber nicht hinreichend

Um die Jahrhundertwende löste der PISA-Schock in Deutschland eine Welle von Schulreformen aus und noch heute erhält PISA eine große mediale Aufmerksamkeit. Die Studie misst alle drei Jahre die Kompetenzen einer repräsentativen Gruppe an 15-Jährigen bzgl. Leseverständnis, Mathematik und Naturwissenschaften. Sie fragt nicht konkretes Schulwissen ab, sondern untersucht, inwiefern Schüler ihr Wissen in lebensnahen Situationen anwenden können.

Viele Menschen mögen protestieren: »Schule und Bildung soll aus mehr bestehen als Lesen, Mathe und den Naturwissenschaften. Wo bleibt Kunst, Musik, Geschichte?« Sie haben recht. Ein gutes Schulsystem sollte ganzheitliche Bildung bieten und nicht nur wirtschaftlich verwertbare Kompetenzen fördern. In den USA, wo jedes Jahr die Mathe- und Englischleistungen in standardisierten, folgenreichen Tests geprüft werden, schaffen viele Schulen Fächer wie Musik und Kunst ab, während »verwertbare Fächer« mehr und mehr Unterrichtszeit erhalten. Davon sind wir in Deutschland zum Glück weit entfernt.

Die PISA-Ergebnisse können also nicht als Messlatte für eine umfassende Allgemeinbildung gesehen werden. Sie aus diesem Grund zu ignorieren wäre aber ein Fehler. Ein Schulsystem, dessen Schülerinnen und Schüler bei den von PISA gemessenen Grundkompetenzen Schwächen aufweisen, kann nicht von sich behaupten, hochwertige Bildung zu liefern. Erfolgreiches Vermitteln von Basiskompetenzen ist – wie meine Kolleginnen und Kollegen im Mathestudium sagen würden – notwendig, aber nicht hinreichend für gute Schule.

Ein Ranking reicht nicht

Berechnet man den Durchschnitt der Leistungen in den drei Kompetenzbereichen, so ergibt sich folgendes Ranking (mit der in 2015 erreichten Punktzahl):

  1. Singapur (552)
  2. Hongkong (536)
  3. Japan (529)
  4. Kanada (527)
  5. Macau (527)
  1. Estland (524)
  2. Taiwan (524)
  3. Finnland (523)
  4. Südkorea (519)
  5. China (514)

Der Platz im Ranking ist eigentlich nicht aussagekräftig, denn in den letzten Jahren wurden Shanghai und Macau (eine Sonderverwaltungszone Chinas) manchmal separat und manchmal als zu China gehörend im Ranking aufgeführt. Dementsprechend rutscht ein Land bei gleichbleibender Leistung im Ranking hoch oder runter. Tatsächlich liegt Deutschland mit 508 Punkten im oberen Mittelfeld des PISA-Rankings. Mit dem oberen Mittelfeld sollten wir uns aber nicht zufriedengeben.

Doch die Frage bleibt: Wollen wir unser Schulsystem ausschließlich auf Hochleistung ausrichten? Genau wie Bildung aus mehr besteht als nur Lesen, Mathe und Naturwissenschaften, haben wir mehr Ansprüche an unser Schulsystem als das bloße Vermitteln von Kompetenzen.

Ein gutes Schulsystem soll nicht nur leistungsstark, sondern auch gerecht sein: Erfolg in der Schule soll nicht davon abhängen, ob die Eltern Akademiker sind oder genug Geld für Nachhilfe haben – auch nicht davon, ob man Moritz oder Murat heißt.

Im besten Fall ist das Schulsystem auch effizient: Jeder Euro erzielt die maximale Wirkung.

Im Gegensatz zu etwas Vagem wie Allgemeinbildung lassen sich Ansprüche wie Gerechtigkeit und Effizienz etwas leichter messen. Das National Center on Education and the Economy (Sitz: USA) hat dazu eine interessante Grafik veröffentlicht, welche unterschiedliche Länder anhand der drei Kriterien Leistung (»PISA performance«), Gerechtigkeit (»equity«) und Effizienz (»system efficiency«) kategorisiert. Die Länder, die ich auf meiner Reise besuche (Estland, Finnland, Singapur und Japan), erfüllen alle mindestens zwei der drei Kriterien.

Asien beherbergt sieben der Top 10 der leistungsstarken Schulsysteme. Eine reine Asien-Tour wäre bestimmt spannend, aber die Frage, was ich für das deutsche System mitnehmen kann, wäre nur unzufrieden beantwortet. Deshalb will ich Länder besuchen, die zwar allesamt in den Top 10 liegen, aber in sehr unterschiedlichen Regionen der Welt zuhause sind. Denn ich will erfahren, wie Bildungserfolg unabhängig von der Kultur eines Landes gelingen kann.

Das Projekt

Von Oktober 2019 bis März 2020 bin ich fünf Monate lang in Länder gereist, deren Schulsysteme als die besten der Welt betrachtet werden. In diesem Blog dokumentiere ich die Erfahrungen meiner »Bildungsweltreise«.

In groben Zügen unterrichten wir so, wie wir selber unterrichtet wurden – nicht, weil diese Methoden die besten sind, sondern weil wir nach 12 (oder 13) Jahren Schulzeit viele Ansätze als selbstverständlich hinnehmen. Sie werden von Generation zu Generation weitergegeben; Unterrichten ist damit eine kulturell geprägte Tätigkeit. Einzelne Leuchtturmschulen hinterfragen ihre Annahmen und erzielen im bestehenden System tolle Ergebnisse. Es lohnt sich sicher, diese unter die Lupe zu nehmen. Ein anderer Ansatz – mein Ansatz – ist es, kulturelle Grenzen zu überschreiten und in fremde Schulsysteme zu blicken.

Damit nicht nur ich von meiner Reise profitiere, ist dieser Blog ein erster Versuch, meine Beobachtungen und Gespräche mit Schülerinnen und Schülern, Eltern, Lehrkräften und Menschen aus Bildungsforschung und Schulverwaltung darzustellen.

Wo geht es hin?

Als Maßstab für ein leistungsstarkes Schulsystem nutze ich die PISA-Ergebnisse von 2015 – ein sicherlich unzureichender, aber dennoch anerkannter Indikator für ein leistungsstarkes Schulsystem. Doch Leistung ist nicht alles. Bei der Auswahl der Länder hatte ich den Anspruch, über Spitzenleistungen hinaus auch die Gerechtigkeit und Effizienz des Schulsystems zu berücksichtigen.

Welche Länder haben es auf meine Liste geschafft?

  • Estland – das digitale Vorzeigeland?
  • Finnland – die glücklichste Nation der Erde?
  • Singapur – die absolute Leistungsspitze?
  • Japan – das Land des »Drills«?

Was sind meine Themen?

Auf der einen Seite war ich auf der Suche nach Lösungen für Herausforderungen, die im Diskurs hierzulande viel Aufmerksamkeit erhalten. Da wären zum Beispiel Lehrkräftemangel, Inklusion, Integration und Digitalisierung.

Gleichzeitig wollte ich Themen auf den Grund gehen, die in der Politik und den Medien vielleicht als wichtig, aber nicht als dringendes Problem wahrgenommen werden. Welche Möglichkeiten gibt es, sich als Lehrkraft im Beruf weiterzuentwickeln? Wie funktioniert der Austausch von Forschung und Praxis? Wie werden Schulen von der Schulverwaltung unterstützt und dazu angehalten, immer besser zu werden?

Was ist der Mehrwert?

Ein an fremden Schulsystemen interessierter Mensch sagt vielleicht: »Wir wissen doch schon, was andere Länder besser machen: gesellschaftliche Wertschätzung, nur die Besten werden Lehrerin oder Lehrer, eine Schule für alle…!« Und die Meisten werden ein Land finden, das besser als Deutschland abschneidet und ihre Forderung umsetzt. Doch nur ein Element eines Schulsystems hervorzuheben dient oft lediglich als Bestätigung der eigenen, meist schon fixen Meinung darüber, was dem deutschen Schulsystem gerade fehlt.

Um diese Art des Rosinenpickens zu vermeiden, wollte ich nicht nur isolierte Aspekte eines Schulsystems betrachten, sondern mir ein umfassendes Bild machen: Wie passen alle Elemente des Schulsystems zusammen? Gibt es mehrere Wege zum Erfolg? Was denken Lehrkräfte von ihrem Schulsystem?

Ich hoffe, dass meine Erfahrungen genau diesen Mehrwert bieten können: die vielen Studien, die es bereits gibt, in einen zusammenhängenden Kontext einzubinden. Was verbindet diese Bildungsweltmeister unterschiedlicher Größe und Bevölkerung in verschiedenen kulturellen Kontexten? Und was können wir von ihnen lernen?